Die Schweizer Wirtschaft wächst nicht nur in die Breite – ist aber dennoch nur europäisches Mittelmass

Immer wieder wird argumentiert, dass die Schweizer Wirtschaft vor allem durch die hohe Zuwanderung wachse und beim Wachstum pro Kopf hinter andere europäische Länder zurückfalle. Tatsächlich ist die wirtschaftliche Situation weniger dramatisch. Das Pro-Kopf-Wachstum und die Produktivitätsfortschritte liegen etwa beim europäischen Durchschnitt oder sogar leicht darüber. Beruhigend ist das aber nicht. Die Schweiz sollte mit ihren eigentlich günstigen Rahmenbedingungen den Anspruch haben, stärker als der europäische Durchschnitt zu wachsen. Aus politischen und gesellschaftlichen Gründen ist es durchaus angebracht, die Vor- und Nachteile einer starken Zuwanderung zu diskutieren. Rein makroökonomisch gibt es aber kaum überzeugende Hinweise darauf, dass das Pro-Kopf-Wachstum ohne die mit der Personenfreizügigkeit entstandene hohe Zuwanderung spürbar höher oder niedriger ausgefallen wäre.

Die Schweizer Wirtschaft hat sich in den vergangenen Jahrzehnten gut geschlagen.  Wie etwa die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) am 10. Dezember berichtete, hat die Schweizer Wirtschaft seit Beginn der 1990er Jahre um etwa 60 Prozent zugelegt, was deutlich höher ist als bei den europäischen Nachbarn. Allerdings hat sich die Wirtschaftsleistung der USA im selben Zeitraum etwa verdoppelt. Eine wichtige Stütze des Schweizer Wirtschaftswachstums war das starke Bevölkerungswachstum. Gelegentlich wird daraus gefolgert, dass die Schweizer Wirtschaft vor allem in die Breite wachse und das Wirtschaftswachstum pro Kopf sogar schwächer ausfalle als bei vielen anderen Ländern. Im Hinblick auf den Eco Talk vom 9. Januar beim Schweizer Fernsehen wurde die Frage aufgeworfen, ob die Schweizer Wirtschaft weniger extensiv (also weniger zuwanderungsgetrieben) und dafür mehr intensiv (also produktivitätsgetrieben) wachsen solle. Unter anderem wurden auch in der Handelszeitung ähnliche Fragen aufgeworfen. Im erwähnten NZZ-Artikel wird für die Schweiz ein Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) pro Kopf von 29 Prozent angegeben für die vergangenen drei Jahrzehnte seit Beginn der 1990er Jahre, was tatsächlich geringer ist als für viele vergleichbare Länder.

 

 

Ein zweiter Blick auf die Zahlen lohnt sich

 

Allerdings lohnt sich ein zweiter Blick auf die Daten. So ist etwa der gewählte Zeitraum ab Beginn der 1990er Jahre stark durch die schwache Entwicklung der Schweizer Wirtschaft in den 1990er Jahren geprägt. Als Folge der Immobilien- und Bankenkrise zu Beginn der 1990er Jahre und anderer struktureller Probleme kam die Schweizer Wirtschaft damals lange kaum vom Fleck und geriet im Vergleich zu fast allen anderen entwickelten Volkswirtschaften beim Wirtschaftswachstum ins Hintertreffen. Zu beachten ist hier, dass damals die Personenfreizügigkeit mit der EU noch nicht in Kraft war, welche in den vergangenen zwei Jahrzehnten zu einer stetigen Zuwanderung von Personen aus der Europäischen Union geführt hat. Betrachtet man das Wirtschaftswachstum pro Kopf seit dem Jahr 2000, fällt das Ergebnis für die Schweiz im Vergleich zu anderen Ländern deutlich günstiger aus (als Quelle wurde hier Eurostat verwendet, Daten anderer internationaler Organisationen können auch verwendet werden). Seit damals hat das BIP pro Kopf in der Schweiz um etwa zwanzig Prozent zugelegt, was in einer ähnlichen Grössenordnung liegt wie die Zuwächse bei Ländern wie Österreich, den Niederlanden, Belgien oder Finnland. Auch im Euroraum insgesamt legte das BIP pro Kopf in diesem Zeitraum etwa um 20 Prozent zu, in Deutschland als dessen grösster Volkswirtschaft waren es immerhin 24 Prozent. Insgesamt fällt Europa bei dieser Betrachtung deutlich hinter die Vereinigten Staaten zurück, wo das BIP pro Kopf seit 2000 um etwa 28 Prozent zugelegt hat.

 

Auch der Zeitraum ab 2007, der die Finanzkrise, die Schuldenkrise im Euroraum und die Pandemie umfasst, lässt die Schweiz beim Wachstum pro Kopf gegenüber den umliegenden europäischen Ländern insgesamt in keinem schlechteren Licht erscheinen. Die Schweizer Wirtschaft wächst also eindeutig nicht nur in die Breite. Allerdings – und das ist wichtig zu betonen – lassen die vorliegenden Daten die Schweizer Wirtschaft auch nicht in einem besseren Licht erscheinen als vergleichbare europäische Volkswirtschaften. Die Schweizer Wirtschaft wächst pro Kopf unspektakulär, mit soliden Raten etwa im europäischen Mittel und deutlich langsamer als die US-Wirtschaft. Ein alles in allem ähnliches Bild ergibt sich, wenn man das Wachstum des BIP pro geleistete Arbeitsstunde anschaut.

 

 

Auch Produktivitätszahlen deuten nicht darauf hin, dass die Schweizer Wirtschaft nur noch in die Breite wächst

 

Sogar recht günstig für die Schweiz fällt aber ein Wachstumsvergleich der Totalen Faktorproduktivität (TFP) aus, also jenem Teil des Wirtschaftswachstums, der nicht durch einen höheren Kapitalstock oder einen höheren Arbeitseinsatz etwa durch Zuwanderung erklärt werden kann. Deshalb kann die TFP durchaus als brauchbares Mass für ein sogenannt intensives Wachstum verwendet werden, wie es momentan immer wieder für die Schweiz gefordert wird. Gemäss der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat sich die Totale Faktorproduktivität in der Schweiz zwischen 2007 und 2020 jährlich um durchschnittlich 0.3 Prozent erhöht. Das ist genau gleich hoch wie in Deutschland und höher als in Ländern wie den Niederlanden, Belgien, Finnland, Schweden oder Österreich, die in diesem Zeitraum entweder eine Stagnation oder einen leichten Rückgang der Totalen Faktorproduktivität aufweisen. Auch bei der Totalen Faktorproduktivität schneiden die Vereinigten Staaten mit einem durchschnittlichen jährlichen Wachstum von 0.5 Prozent seit 2007 besser ab als viele europäische Länder. Zu beachten ist, dass die Totale Faktorproduktivität in so gut wie allen entwickelten Volkswirtschaften weniger zulegt (oder gar stagniert) als etwa in den Nachkriegsjahrzehnten.

 

 

Europa fällt gegenüber den USA zurück

 

Was uns also die Daten eindeutig sagen: Europa ist gegenüber den USA deutlich ins Hintertreffen geraten. Die Schweiz hat sich dieser harzigen Entwicklung in Europa nicht entziehen können. In den Vereinigten Staaten ist beileibe nicht alles besser als in Europa, das sieht man nur schon an der niedrigeren durchschnittlichen Lebenserwartung jenseits des Atlantiks. Dennoch scheinen es die USA zumindest ökonomisch immer wieder besser zu schaffen als Europa, Krisen zu meistern und insgesamt mutiger in Zukunftstechnologien zu investieren. Viele Länder schreiben sich auf die Fahne, gute Rahmenbedingungen für private Innovationen zu schaffen. Aber Tatsache ist: Sehr viele bahnbrechende Innovationen sind den vergangenen Jahrzehnten aus den USA gekommen und nicht aus Europa. Und jüngst hat etwa Joe Biden für die kommenden Jahre hohe Mittel bereitgestellt für Investitionen in Zukunftstechnologien. Davon sollte sich Europa mehr inspirieren lassen.

 

 

Welche Lehren für die Schweiz?

 

Die Schweiz ist also momentan beim Wirtschafts- und Produktivitätswachstum europäisches Mittelmass. Zuvor war die Schweiz während der 1990er Jahre deutlich zurückgefallen und hat rein makroökonomisch betrachtet so etwas wie ein verlorenes Jahrzehnt erlebt. Seit der Einführung der Personenfreizügigkeit lagen die schweizerischen Wachstums- und Produktivitätsraten etwa im europäischen Durchschnitt. Die hohe Zuwanderung hat zusätzlich zu einem durchaus soliden intensiven Wachstum auch zu einem kräftigen extensiven Wachstum geführt. Ob sich die Schweizer Wirtschaft ohne die hohe Zuwanderung besser oder schlechter als der europäische Durchschnitt geschlagen hätte, ist reine Spekulation. Es ist ohne überzeugende Gegenargumente durchaus plausibel, dass sich auch ohne die hohe Zuwanderung am Wirtschaftswachstum pro Kopf und der Entwicklung der Produktivität wenig geändert hätte und die Schweiz auch so europäisches Mittelmass wäre.

 

Im Alltag spüren wir nur wenig davon, dass wir unspektakulär im europäischen Mittelmass wachsen. Denn die Wirtschaftsleistung und die Produktivität pro Kopf sind im Niveau schon lange teilweise deutlich höher als in den meisten europäischen Ländern. Der Wohlstandsabstand zwischen der Schweiz und anderen europäischen Ländern ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten einfach in etwa gleich gross geblieben. Beruhigend ist das aber nicht. Die Schweiz mit ihren nach wie vor starken Bildungssystem, einer guten Infrastruktur und einer forschungsintensiven Wirtschaft sollte den Anspruch haben, pro Kopf kräftiger als der europäische Durchschnitt zu wachsen.

Insgesamt kämpfen viele europäische Volkswirtschaften mit einer schwachen wirtschaftlichen Entwicklung. Die Schweiz kann zwar versuchen, sich mehr an den Vereinigten Staaten oder aufstrebenden Volkswirtschaften auf anderen Kontinenten zu orientieren. Dennoch wird die Schweiz immer von der ökonomischen Entwicklung in unseren Nachbarländern abhängig bleiben. Wir können es kaum beeinflussen, haben aber ein hohes Interesse daran, dass Europa nach krisengeplagten fünfzehn Jahren wieder schnell auf die Beine kommt und die Energiekrise möglichst rasch überwinden kann.